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Nicht harmlos: die Fotowut

Ich bin Fotografin, das muss ich entschuldigend vorausschicken.

Ich habe selten bis nie die Kamera gehoben, wenn ich nicht dafür bezahlt wurde, als Auftrag oder in der Lehrtätigkeit.

Wenn ich durch den Sucher schaue, habe ich das Dollarzeichen im Auge und einen dementsprechenden Qualitätsanspruch.

Hat nicht jeder, weiß ich. 

Aber was heute unter Fotografie verstanden und wie sie missbraucht wird, ist seit der Digitalisierung exorbitant. Missbrauch sowohl an der Lichtmalerei als auch soziales Ärgernis höchster Güte.

 

Wie lange ist es her, dass wir verächtlich schmunzelnd auf japanische Reisegruppen schauten, die wie unter Zwang alles fotografierten, um sich selbst im Anderswo zu dokumentieren? 

Wie lange ist das her? 10 Jahre oder 15?

Als die Kameras für Normales noch analog waren und Negativ- oder Diafilme Geld kosteten, ja als Mobiltelefone noch überwiegend zum Telefonieren benutzt wurden?

Ich möchte das Rad wahrlich nicht zurück drehen, aber ich würde mir wünschen, dass Fotografie wieder Geld kostet. Für jeden Klick des Auslösers 10 Cent, besser noch: 50 Cent! Früher waren es (für schlechte Bildqualität) immerhin auch 30 Cent (Film und Entwicklung beim Discounter)

Es waren größtenteils schlechte Bilder, es war schrecklich, aber gerechter. Wer meinte, trotzdem fotografieren zu müssen, musste wenigstens dafür bezahlen, ein Opfer bringen - nicht erst im Himmel der Lichtmalerei-Götter.

 Ich weiß, dass ich mich momentan unbeliebt mache, aber das darf mich nicht davon abhalten, dieses hemmungslose Drauflosknipsen mit allen asozialen Komponenten einmal genau zu benennen. 

 

Ein Beisipiel:

Es sind 5 Menschen plus Guide unterwegs, mit begrenzter Zeit, wohlgemerkt.

Nach der Abfahrt gleich das erste „wir-starten-gleich“-Foto. 

 

Beweissicherung.

Wechselseitig, sogar zwischen Ehepartnern. (Haben sie die Trennung vor Augen und möchten jeder ein Foto für die Zeit danach?)

Die Gruppe fährt ca. 15 Minuten, erste Pause. Der Guide nennt sie schon „Foto-Pause“. Ich habe Mühe, nicht ins Blickfeld irgendeines Objektives  zu geraten. Ich halte gern die Hoheit über meine Bildrechte. Aber da es müßig wäre, in dieser Situation übers Recht am Bild zu referieren, fliehe ich. Ziemlich anstrengend.

Der Ausflug lässt sich zusammenfassen in rund 7 Fotopausen (erlaubt und vorgesehen) und ca 3 zusätzlichen (erschlichen). Die Paare tun so, als wären sie allein auf der Welt. Halten fest, dokumentieren: Gebäude, sich selbst vor Gebäude, „cheeeese“, Freude bis zum Klacken des Auslösers. Kenne ich so nur von Politikern oder öffentlichen Personen mit PR-Verpflichtung.

 

Normalos machen News.

Headline: ICH WAR DA

Foto: Frozen smile des ICH vor dem DA

Erscheinungsdatum: sofort online

Erscheinungsort: facebook, instagram und Co

Relevanz: … das möge jeder selbst beantworten. DPA oder Reuters werden es jedenfalls ignorieren. UND DAS IST WOHL DER BESTE BEWEIS, DASS DIE MEDIEN MANIPULIERT WERDEN, NICHT WAHR? DA STEHT DOCH IMMER NUR DIE HALBE WAHRHEIT, NEIN, EIN ZEHNTEL… DENN DASS ICH UND LIESCHEN MÜLLER DA WAREN: WO STEHT DAS DENN, HÄH?

Bitte verzeihen Sie mir diesen Sarkasmus, aber ich halte es noch immer für eine kranke Entwicklung, selbst wenn es um mich herum Normalität geworden ist.

 

Fatal wird es, wenn man bedenkt, dass die Menschen in der Zeit, wo sie knipsen, nicht mehr wahr-nehmen. Sie knipsen statt zu fühlen, zu sehen, zu schmecken. Das ist wirklich bedenklich.

So gibt es sogar Fotos von neugeborenem Leben aus dem Kreissaal. Den wichtigsten und - in meinen Augen heiligsten - Moment der Geburt festgehalten und … dadurch für immer verloren, weil nicht gespürt.

Das ist im höchsten Maße asozial.

Dagegen sind die Urlaubsfotos „peanuts“. Aber da fängt es an…